Der Q-Faktor

Die Rhetorik des Fortschritts

Was wird die Zukunft bringen? Schwer zu sagen, denn es geht dabei ja um Dinge, die es noch nicht gibt. Einfacher ist es, über Dinge zu reden, die es nie geben wird, die aber schon seit langem die Zukunftsvorstellungen vieler Leute dominieren.

S. B. Die Zukunft der Informatik ist noch immer, was sie auch schon war: kontrastreiche Farbphotos von gestylten Science-fiction-Gadgets, veraltet, noch bevor jemand ernsthaft daran denkt, sie zu benutzen. Wo sich die Informatik- Berichterstattung nicht für ihren Gegenstand, sondern für die Resultate der Leserschaftsforschung, nicht für die Entdeckung längerfristiger Entwicklungslinien, sondern für kurzfristige Sensationen interessiert, folgen ihre Prognosen schon seit vielen Jahren demselben Muster: Alles wird anders - da staunt der Laie -, und alles bleibt sich gleich - der Laie soll ja auch erfassen können, wie sehr alles anders wird.

Die Zukunft stirbt nie

Es ist einfach vorauszusagen, welche Ergebnisse diese Art von Zukunftsforschung zutage fördern wird, denn die Kriterien, nach denen das Potential von Techniken bewertet wird, stehen schon seit langem fest: Das Neue muss exotisch sein, aufregend anders. So präsentierte die US- Zeitschrift «Popular Mechanics» 1950 das typische Wohnhaus im Jahr 2000 wie die Toilette eines Flugzeugs, mitsamt all seinen Innereien in einem Guss aus Kunststoff gefertigt. Gleichzeitig soll das Neue aber auch vertraut sein. Deshalb positionierte der Illustrator von «Popular Mechanics» in die Mitte seines Kunststoffheims die Hausfrau, die lächelt, weil - wie die Bildlegende verrät - sie ihre Arbeit des Saubermachens nun mit dem Wasserschlauch einfach erledigen kann. Das Neue soll Lösungen hervorbringen für alte Probleme; mögliche neue Probleme fallen ausser Betracht. Dass der Einsatz von Technik nicht allein von technischen, sondern etwa auch von ökonomischen oder sozialen Faktoren bestimmt wird, dass die Hausmänner des Jahres 2000 zwar keine Probleme haben, Plasticmöbel zu kaufen, sich aber schwertun, eine Hausfrau zu finden, der Saubermachen als Lebensinhalt genügt, konnte sich der Journalist 1950 trotz einer gut entwickelten Phantasie offenbar nicht vorstellen.

Das Neue muss der jeweils gerade aktuellen Leittechnik angehören. Das ist heute die Computertechnik, das war in den sechziger Jahren die Raumfahrt oder in den fünfziger Jahren der Flugzeugbau. In den dreissiger Jahren scheint das Radio noch immer inspirierend gewirkt zu haben. In fünfzig Jahren, so prognostizierte 1938 ein Journalist des «Harper's», werde jeder Mensch über private Radiofrequenzen verfügen, um sich drahtlos entfernten Freunden und Bekannten mitteilen zu können. Hätte er nicht Radio, sondern Handy gesagt, könnte man ihm heute auf die Schultern klopfen, aber offenbar war das Telefon damals bereits zu alltäglich, als dass man ihm noch etwas futuristisches hätte abgewinnen können. (Derselbe Journalist kann sich vorstellen, dass Fernsehgeräte Ende der achtziger Jahre eine Selbstverständlichkeit darstellen könnten, hält das aber für unrealistisch: «Fernsehen braucht so viel Bandbreite, dass es unpraktisch sein dürfte, und in jedem Fall dürfte es langweilig sein.»)

Für den «Harper's»-Redaktor steht auch fest, dass die Menschen 1988 über senkrechtstartende Privatflugzeuge verfügen, aber das Auto, das sie ebenfalls noch besitzen, kaum noch benutzen. Damit wird ein weiteres Element sichtbar, das in populären Zukunftsträumen nie fehlen darf: Das Neue ist besser, weil es komplizierter ist. Automatische Schiebetüren sind besser als Türen, die Schreibmaschine ist besser als der Bleistift und wird diesen deshalb bald verdrängen («New York Times» 1938). Vom Neuen wird erwartet, dass es die Technik-Trends der letzten paar Jahre fortsetzt; der Fortschritt führt vom schnellen zum noch schnelleren Rechner, von der graphischen Benutzeroberfläche zur 3-D-graphischen Benutzeroberfläche, vom virtuellen Papierkorb zur virtuellen Realität. Um in den Massenmedien Karriere zu machen, muss das Neue auch berührbar und photographierbar sein; ein verbesserter Routing-Algorithmus hat keine guten Aussichten, berücksichtigt zu werden. Idealerweise hat das Neue auch einen klar lokalisierbaren Ursprung, am besten eine einzelne Person, die sich als Erfinder porträtieren lässt.

Eine Technik, die all diesen Anforderungen gerecht wird, die exotisch ist, aufregend, und doch alltäglich, die technisch sehr kompliziert ist und sich trotzdem anfassen lässt, hat gute Chancen, die Magazine und Illustrierten zu erobern, sie hat - nennen wir das einmal so - einen hohen Q-Faktor. Diese Bezeichnung soll den famosen Herrn Q ehren, jenen genialen Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes, der den Agenten 007 mit all den faszinierenden Gadgets ausstattet, ohne die die westliche Welt längst untergegangen wäre und die seit vielen Jahren in Sachen Zukunft das Mass aller Dinge darstellen. Denn so sind wir doch alle, Journalisten wie Endanwender, immer in Bewegung, mit wenig Gepäck, einmal in einem U-Boot, dann wieder im Cockpit eines Düsenjets, gestern in einem mondänen Winterkurort, morgen auf einer sonnigen Karibikinsel, ständig umschwärmt von atemberaubend schönen Frauen, nebenbei damit beschäftigt, die Welt von allem Bösen zu befreien. Deshalb geben wir uns mit «Windows 98 for Dummies» nicht zufrieden, wir brauchen ein Feuerzeug, mit dem man auch Gitterstäbe zersägen, eine Füllfeder, mit der man schiessen kann, oder Manschettenknöpfe, die miteinander über Satellit kommunizieren.

Blick in den Rückspiegel

Die räsonierenden Manschettenknöpfe, unterstützt von einer intelligenten Hose, cleveren Schuhen und einer nachdenklichen Brille, haben einen sehr hohen Q-Faktor; es kann deshalb nicht erstaunen, dass sie seit vielen Jahren ständig in den Medien präsent sind. Die auf Internet-Lifestyle spezialisierte US-Zeitschrift «Wired» hat das Thema seit 1993 in unzähligen Artikeln aufgegriffen und «Wearable Computing» fast schon zu einem Synonym für Zukunft werden lassen. Die gefeierten Helden der Wearables heissen Steve Mann und Thad Starner, die beide am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) dissertiert haben. Steve Mann berichtet, er habe sich seinen ersten Wearable Computer schon als Teenager in den siebziger Jahren gebastelt. Das Ding sei schwerer gewesen als er selbst. Er getraute sich damit nur nachts auf die Strasse, um dann einige Stunden später völlig erschöpft und mit blutenden Füssen wieder heimzukehren. In den achtziger Jahren begann er die Komponenten des Computers in Kleidungsstücke einzunähen, um das Gewicht besser zu verteilen. 1991 brachte er seine Idee als Thema für eine Doktorarbeit ans MIT. Seit dieser Zeit bedeutet für ihn Morgentoilette zuerst einmal das Zusammensuchen von kompatiblen Kleidungsstücken, das Zusammenstöpseln der Komponenten, das Hochfahren der CPU und die Integritätsprüfung der Speichersysteme. Die Vorteile sind evident: Beim Velofahren, so berichtet er, könne er dank einer Videokamera am Hinterkopf auch sehen, was hinter ihm passiert, wenn er im Lebensmittelladen vor einem Regal stehe, könne seine Frau zu Hause übers Internet sehen, was die Videokamera auf seinem Kopf sehe, und ihm per E-Mail Einkaufswünsche übermitteln.

Das Media Lab ist eine Institution, die in ihrer knapp fünfzehnjährigen Geschichte noch kein einziges marktgängiges Produkt hervorgebracht hat, es aber trotzdem geschafft hat, den Slogan «Inventing the Future» für sich zu okkupieren, und fast täglich TV-Crews und Journalisten-Delegationen aus aller Welt empfängt. Hier findet Mann rasch Kollegen. Ab 1993 läuft unter anderem auch Thad Starner ständig mit Bildschirmbrille und Anschnall-Computer herum. Seit 1996, so rapportiert Starner der «New York Times», habe er keinen Desktop-Computer mehr angerührt. Die vom MIT herausgegebene «Technology Review», die Starner letzten Dezember zu einem der 100 wichtigsten Nachwuchswissenschafter gekürt hat, erwähnt es als sein besonderes Verdienst, dass er sich seit Jahren nicht mehr ohne seinen Wearable habe blicken lassen. Die Augen stets auf den in die Brille eingebauten Bildschirm fokussiert, speisen Videokameras und Mikrophone seinen Bewusstseinsstrom. Bis zu 16 GByte an Daten lieferten diese künstlichen Sinnesorgane täglich an, erläutert Starner staunenden Medienvertretern.

1997 wurde die erste Modeschau für Wearable Computing veranstaltet. Dank der Arbeit der Modephotographen eroberte das Thema bald die letzten Hütten des globalen Dorfes. Das Bild des zierlichen Mädchens im sehr knappen, metallisch glänzenden Bikini - kein Bikini, sondern ein Computer - und mit der überdimensionierten Skibrille - keine Skibrille, sondern eine Mensch- Maschine-Schnittstelle - ging um die Welt.

Nicolas Negroponte, Gründer und Direktor des Media Lab, der in den siebziger Jahren von einem Haus träumte, das sich selber umbaut, während der neunziger Jahre als Kolumnist des «Wired» kommunizierende Manschettenknöpfe propagierte, schwärmt neuerdings von Computern, die so klein sind, dass man sie essen kann. Auch «Wired» beginnt das Edible Computing zu favorisieren, doch so schnell verschleissen sich die Wearables nicht: «Der PC der Zukunft ist eine Brille» («Tages-Anzeiger» 1999), «Leibcomputer sind keine Phantasie», «Cash» 1999).

Hilfe, meine Stiefel booten nicht!

Technik-Journalisten, die sich am Q-Faktor orientieren, werden das Neue nicht erkennen, weil sie das Neue am Neuen übersehen. Das Neue erscheint ihnen stets nur als Kombination von Altem, oder, um es anders zu sagen und ein Schlagwort aufzugreifen, das nun schon seit Jahren das Nachdenken über die Zukunft der Informatik prägt, als Konvergenz bereits etablierter Entwicklungslinien.

Der Fernseher hat einen Bildschirm, der Computer auch, was liegt da näher, als die beiden zu verschmelzen? Die Computer werden immer kleiner und finden bereits in einer Westentasche Platz, warum sollte man sie nicht gleich in die Kleidung einnähen? Wäre diese Logik zwingend, dann hätten Radiogeräte oder Uhren ihre Existenz als separate Geräte längst verlieren müssen. Zurzeit sieht es so aus, als würde eher das Gegenteil eintreten und nicht Konvergenz, sondern Divergenz die Entwicklung bestimmen. Es scheint, als würde der Computer, die universell programmierbare Maschine, bald nicht mehr das Zentrum der Computerwelt bilden, sondern verdrängt werden von Info-Appliances, kleinen, simplen Geräten, programmiert für einen einzigen Anwendungszweck.

Während auf den Bürotischen, in den Wohnzimmern und in den Westentaschen der Leute sich die Vielfalt der mit einem Rechenwerk ausgestatteten Geräte vermehrt, findet bei den Netzwerken eine Vereinheitlichung statt; Videofilme, Radiosendungen, E-Mail-Nachrichten, Telefongespräche werden alle als Abfolge von Daten- Paketen übermittelt. Das Getriebe, das diese Pakete bewegt, wird allerdings in naher Zukunft mit einigen zusätzlichen Rädchen ausgebaut werden; die Verschiedenartigkeit der Endgeräte und auch die unterschiedlichen Inhalte machen eine Differenzierung der Transportprotokolle notwendig. Es gibt sogar Ansätze, dieses Getriebe zu einem Über-Betriebssystem auszubauen. Das Internet würde dann nicht nur Daten übertragen, sondern auch Dienste, wie sie ein Betriebssystem typischerweise lokalen Programmen zur Verfügung stellt, zwischen entfernten Computern vermitteln können. Dinge wie HTTP-NG, Jini/Java- Spaces, Simple Object Access Protocol, Web-OS oder XML-RPC verheissen einen Quantensprung in der Weiterentwicklung des Internets, besitzen aber - ähnlich wie einst HTTP/HTML/URL, die Tim Berners-Lee vor zehn Jahren veröffentlichte und die heute das World Wide Web ausmachen - einen sehr geringen Q-Faktor.

Neue Zürcher Zeitung, 7. Januar 2000